Zwischen Angst, Wut und Erleichterung: Die Ukrainerin Anastasiia Vitushkina ist im südostukrainschen Mariupol geboren und aufgewachsen. Nach drei Monaten Angriffskrieg ist in ihrer Heimatstadt nichts mehr, wie es war. «Sie haben nicht nur meine Stadt zerstört, sondern mir auch meine Erinnerungen genommen», sagt die 25-jährige Luzernerin.

Erinnerungen sind etwas Kostbares. Die Ukrainerin Anastasiia Vitushkina hat viele an ihre Heimatstadt Mariupol im Südosten der Ukraine. Die Schule, der Strand, die Treffpunkte, wo sie ihre Freunde traf. Bis vor acht Jahren lebte die 25-Jährige in einem neunstöckigen Wohnhaus im Zentrum der Hafenstadt. Einst zählte diese rund 440 000 Einwohner, sie galt als bedeutendes Industrie- und Wirtschaftszentrum des Landes. Dann fiel Russland in der Ukraine ein. Wochenlang hielt Mariupol den Angriffen entgegen, entwickelte sich zum Symbol des Widerstands – bis Russland am 20. Mai die Kontrolle erlangte. Nach drei Monaten Angriffskrieg liegt Mariupol in Trümmern. Vitushkina erkennt ihre Heimatstadt auf Bildern nicht wieder.
Kurz bevor die Luzernerin 2014 die Ukraine verliess, annektierte Russland die Krim, der Krieg in der Ostukraine hatte begonnen. Die Lage in Mariupol war unsicher. Trotzdem: «Ich hätte nie gedacht, dass es so schlimm werden könnte», sagt die Ukrainerin. Das Unverständnis ist gross. «Russland behauptet, dass wir Nazis sind und sie hassen.» Sie persönlich habe nie eine Abneigung gegenüber dem Land verspürt. Im Gegenteil: Die Familie ihrer Mutter stammt aus Russland, viele ihrer Verwandten leben dort. «Das Land war für mich wie eine zweite Heimat.» Mit dem Angriff auf die Ukraine habe Russland den Hass in den Menschen selbst entfacht.
«Wir hatten einfach Glück»
2014: Das ukrainische Militär und Volksmilizen kämpften von Mai bis Juni um die Kontrolle von Mariupol. Am 9. Mai gerät das Polizei-Hauptquartier im Zentrum bei Auseinandersetzungen in Brand – zehn Minuten von Vitushkinas Wohnhaus entfernt. Die Ukrainerin wartete zu dieser Zeit auf ihr Visum. Zusammen mit ihrer Mutter stand der Umzug in die Schweiz an, wo ihr Stiefvater wohnte. Sie war damals 17 Jahre alt und habe die Gründe für den Konflikt «nicht wirklich verstanden». Von einem auf den anderen Tag gab es in der Stadt zerstörte Häuser. Auf den Strassen verbarrikadierten Gummireifen den Weg. Menschen demonstrierten für die Zugehörigkeit zu Russland. Für Vitushkina absurd. «Es war wie in einem Kinofilm», sagt sie. «Als wäre die Welt plötzlich verrückt geworden.»
Die Zugverbindungen waren damals unterbrochen. Als Vitushkina das Visum erhielt, fuhren sie und ihre Mutter mit einem befreundeten LKW-Fahrer nach Kiew. Dabei passierten sie Strassensperrungen mit bewaffneten Menschen, wurden kontrolliert. «Es war aber nicht gefährlich, wir hatten keine Angst», sagt sie. Im Vergleich zu Donezk oder kleineren Nebenstädten sei die Lage in Mariupol damals «nicht so schlimm» gewesen. Von Kiew ging es mit dem Flugzeug in die Schweiz. Obwohl der Krieg damals nicht der ausschlaggebende Grund für den Umzug war, verspürte Vitushkina Erleichterung: «Der Zeitpunkt war optimal. Wir hatten einfach Glück.»

Neues Land, neue Sprache, neue Erlebnisse
In der Schweiz dann der Kulturschock. Keine Militärpräsenz. Keine Strassensperrungen. «Hier war alles ruhig und freundlich.» Eines machte ihr allerdings zu schaffen: die Luft. In Mariupol hatten die umliegenden Fabriken keine Filter. «Mein Körper musste sich zuerst an die gute Luft in der Schweiz gewöhnen», erzählt sie mit einem Lachen. Zuerst lebte Vitushkina mit ihrer Familie in Zug, reiste durch die Schweiz und lernte die Sprache und das Land kennen. «Es war alles sehr spannend.» Später studierte sie in Düsseldorf Kommunikationsdesign und anschliessend an der Hochschule Luzern Visuelle Kommunikation. Mittlerweile wohnt die Ukrainerin mit ihrem Hund Marcel, einem Toy Terrier, in Luzern. Er sei der Einzige in ihrer Familie mit einem Schweizer Pass, scherzt die 25-Jährige. Seit ein paar Monaten arbeitet sie bei den SWS Medien als Grafikerin sowie Polygrafin und gestaltet damit diese Zeitung mit.
Während ihres Studiums hatte Vitushkina keine Zeit für eine Reise in die Ukraine. Als sie wieder zurückkehrte, um ihre Grosseltern zu besuchen, war sie überrascht. «Mein erster Gedanke war: Wow, was ist passiert?» Von der Maidan-Revolution in Kiew war nichts mehr zu sehen. «Ich habe nicht damit gerechnet, dass sich alles so schnell verändert und alles repariert wird.» Dasselbe in Mariupol. Zuletzt war sie im vergangenen Sommer dort. Die Stadt war sauber, die Strassen und Häuser renoviert. «Alles hat gelebt, die Restaurants waren voll und es wurden Partys gefeiert.» Das sei untypisch für Mariupol: Als sie aufwuchs, war die Stadt von der Industrie geprägt, viele Häuser waren renovierungsbedürftig. «Es fühlte sich für mich an wie ein Neuanfang.» Sie habe gedacht: Jetzt kann man das Leben in Mariupol geniessen.
Wochelanges Bangen um Familie und Freunde
Es kam anders. Am 24. Februar erklärte Russland der Ukraine den Krieg. Kurz darauf fielen im östlichsten Stadtbezirk von Mariupol die ersten Bomben. In dem Teil, wo die Grosseltern von Vitushkina wohnen. «Sie haben sehr Schlimmes erlebt», erzählt sie. Wochenlang harrten sie ohne Gas, Licht und Wasser aus. Fast eineinhalb Monate hatten sie kaum zu Essen, teilten sich eine Konserve für zwei Tage. «Ein Freund im Militär konnte ihnen zum Glück etwas zu Essen bringen.» Zu Beginn erreichte die Ukrainerin ihre Grosseltern noch auf dem Handy – ab Anfang März herrschte Funkstille. Die Telfonleitungen waren unterbrochen. Eine schlimme Zeit für die 25-Jährige. Sie wusste nicht was los war, ob ihre Verwandten und Freunde noch lebten. Über die Nachrichten-Plattform Telegram versuchte sie an Informationen zu gelangen, scrollte stundenlang in Gruppen nach Neuigkeiten, versuchte zu erfahren, ob die Strasse in der ihre Grosseltern wohnen, noch ganz ist. Auch um eine Freundin die in ihrer früheren Nachbarschaft wohnte, machte sie sich unter anderem Sorgen. «Niemand wusste, wo sie war und niemand konnte sie finden.» Sie befürchtete das Schlimmste. Ende März erfuhr sie: In dem Stadtbezirk ihrer Grosseltern gab es starke Bombardierungen, eine Bombe fiel in ihren Garten – doch alle Bewohnenden seien am Leben.
Fast zwei Monate nach der Funkstille die Gewissheit: Ihre Grosseltern lebten, ihre Freundin ebenfalls. Über das russische Mobilfunknetz gab es wieder eine Telefonverbindung. Als sie die Stimme ihrer Grosseltern und ihrer Freundin hörte, war sie überwältigt. «Ich konnte meine Emotionen nicht mehr zurückhalten.» Ihre Grosseltern konnten Mariupol inzwischen verlassen. Sie sind zu Verwandten in Moskau geflohen. Eine Freundin wurde in ein Filtrationslager an der russischen Grenze gefahren. Dort werden die Flüchtlinge auf Verbindungen zum Militär überprüft. Können keine nachgewiesen werden, dürfen sie in das Land einreisen. «Was mit den anderen passiert, weiss ich nicht.»
Zwischen Unverständnis und Dankbarkeit
Nach diesen nervenaufreibenden Wochen verspürt Vitushkina Sehnsucht nach der Ukraine. Gerne würde sie für ein paar Tage das Heimatgefühl spüren. «Aber ich weiss, dass es für mich hier in der Schweiz sicherer ist.» Für sie ist klar: Solange Mariupol unter russischer Kontrolle ist, will sie nicht in ihre Heimatstadt zurückkehren. «Ich will das nicht sehen oder akzeptieren.» Besonders schockiert hätten sie die Erzählungen von Bekannten, die in Mariupol geblieben sind. Die humanitäre Lage in der Stadt sei prekär. Nach wie vor fehle es an Wasser, Nahrung und Strom. «Anstatt etwas dagegen zu machen, hat Russland grosse Fernseher gebracht, auf denen russische Propaganda läuft.» Das und die Bilder ihrer zerstörten Heimatstadt machen die 25-Jährige wütend. Ihre ehemalige Schule, ihre Nachbarschaft, ihr ehemaliges Wohnhaus: zerstört. Einzig ein paar verkohlte Steine erinnern an die Gebäude. «Ich verstehe nicht, weshalb man alles kaputtmachen muss», sagt sie. Russland habe von Anfang an nicht reden wollen. Sie seien gekommen, um alles zu zerstören. Was das bei ihr auslöst? «Es ist kein Hass. Es ist etwas Stärkeres», sagt sie. «Sie haben nicht nur meine Stadt zerstört, sondern mir auch meine Erinnerungen genommen.» Ihre Wut richte sich nicht gegen das russische Volk, vielmehr gegen den russischen Machthaber Wladimir Putin und die Soldaten, die «wie Tiere das Land und die Leute angreifen». Trotzdem könne sie dankbar sein für ihre Situation: «Bei mir ist nur die Stadt kaputt, bei anderen noch viel mehr.» Sie weiss ihre nächsten Menschen in Sicherheit, kann sie jederzeit erreichen. «Das war mir das Wichtigste.»
Vitushkina findet es wichtig, weiterhin über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. «Am Anfang waren alle schockiert und wollten helfen.» Mittlerweile hätten sich viele an die Situation gewöhnt. Es sei ruhiger geworden. «Man muss sich immer wieder ins Gedächtnis rufen: Was in der Ukraine passiert, ist für unsere moderne neue Zeit nicht normal.» Das dürfe es auch nicht werden. «Es muss laut bleiben.»