Zuhören, entscheiden, handeln

 Claudia Wedekind kandidierte neben drei weiteren Politikerinnen als Regierungsratskandidatin der Mitte Kanton Luzern. Nominiert wurde sie nicht, als Gewinnerin sieht sie sich trotzdem. Der «Seetaler Bote» hat die Ermenseerin am Tag der Nominationsversammlung begleitet.
Bei ihrem Pferd tankt Claudia Wedekind Kraft.  Fotos: Milena Stadelmann

Zuhören. Entscheiden. Handeln. Claudia Wedekind schreibt sich die Stichwörter aus ihrer Rede auf ihre Notizen. Sieben Minuten. So lange darf die Ansprache sein, die sie als Nominationskandidatin für die Neuwahlen des Regierungsrats vor 505 Mitte-Delegierten halten wird. Eigentlich kann sie die Rede längst auswendig. Seit Wochen hat sie sich auf diesen Moment vorbereitet.

Die Delegiertenversammlung der Mitte Kanton Luzern hat begonnen. Im Brauisaal in Hochdorf werden die ersten Traktanden abgehandelt. Wedekind senkt ihren Kopf, schliesst die Augen, bewegt ihre Lippen lautlos. Der Text der Rede muss sitzen. «Ich habe Respekt, ohne Notizen auf die Bühne zu gehen», sagt die Ermenseerin. Doch sie wird es durchziehen. Zuhören. Entscheiden. Handeln. Mit diesen Fähigkeiten will sie überzeugen. Sie will Regierungsratskandidatin werden. Wird es ihr gelingen? Parteipräsident Christian Ineichen verkündet die Reihenfolge, in der die Kandidatinnen ihre Reden halten werden. Wedekind notiert sie sich: 1. Manuela Jost-Schmidiger. 2. Michaela Tschuor. 3. Claudia Wedekind. 4. Michèle Albrecht. Die Zeit läuft.

Kritik an Kandidatur

Zehneinhalb Stunden vor dem Wahlergebnis: Wedekind steht in der Küche ihres Hauses in Ermensee und kocht ein Risotto. Ohne Safran. Das Gewürz ist ausgegangen. Es duftet nach gebratenen Zwiebeln. Familienhund Jimmy trabt durch das Haus. Gleich kommen zwei ihrer drei Kinder von der Schule nach Hause. Der normale Alltag. Und doch ist heute einiges anders. Die 47-Jährige erhält bereits den ganzen Morgen Nachrichten. Parteikolleginnen und -kollegen aber auch überparteiliche Bekannte und Personen aus ihrem Umfeld wünschen ihr Glück für die Nominationsversammlung am Abend. Noch ist Wedekind nicht aufgeregt.

Die vergangenen zwei Monate bescherten der Ermenseerin einige schlaflose Nächte. «Ich hatte keine Ahnung, was alles auf mich zukommt», sagt die Politikerin über ihre Kandidatur. Einen Flyer mit Referenzen zusammenstellen. 750 Couverts von Hand anschreiben. Eine 7-minütige Rede vorbereiten. Für diese holte sich Wedekind eine Coachin an ihre Seite. «Das hat mir persönlich enorm viel geholfen», sagt sie. Nicht nur, um ihre Präsentationstechnik zu verbessern. Für ihre Kandidatur erhielt die Kantonsrätin insbesondere aus anderen Luzerner Wahlkreisen viel Kritik. «Damit musste ich zuerst umzugehen lernen.» Der Grund: Wenn der wieder antretende Rothenburger Regierungsrat Reto Wyss erneut in den Regierungsrat gewählt wird – was zu erwarten ist – wäre bereits eine Person aus der Mitte Wahlkreis Hochdorf in der Kantonsexekutive vertreten.Dieses Argument konnte Wedekind nicht von ihrer Kandidatur abhalten. Viel eher bestärkte sie es in ihrem Entscheid: «Ich mache das jetzt.» Nur schon, um den Delegierten mit ihrer Kandidatur eine Auswahl zu bieten, sowie Präsenz für den Wahlkreis Hochdorf zu markieren.

Politik steckt an

Eine Schüssel mit Salat und das Risotto ohne Safran stehen auf dem Tisch. Wedekind ruft die Kinder zum Essen. Sie erzählen von der Schule. Aus dem Radio erklingt leise eine Stimme, die Nachrichten laufen. Im Haus der Familie Wedekind geht es oft um Politik. «Eigentlich immer», sagt Wedekinds Tochter. Manchmal sei das anstrengend, aber eigentlich auch gut. Sie und ihre beiden Brüder bekommen politisch viel mit, können diverse politische Persönlichkeiten aufzählen. Die 13-Jährige interessiert sich selbst für die Politik. Im November nimmt sie an der Kantonalen Jugendsession teil. Wie sie es fände, wenn ihre Mutter als Regierungsratskandidatin nominiert wird? «Irgendwie gut, irgendwie aber auch schlecht.»

Eine Wahl in den Regierungsrat würde den Alltag von Wedekind auf den Kopf stellen. Ihren Job und viele politische Ämter müsste sie aufgeben, für ihre Familie bliebe weniger Zeit. Wedekind ist froh, dass bei der Nomination vier Frauen antreten. Alle haben Kinder im ähnlichen Alter. So stehe die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht im Fokus ihrer Kandidatur. «Ich glaube nicht, dass man als Regierungsrätin sein komplettes Leben aufgeben muss», sagt Wedekind. Das würde sie gerne beweisen.Die Kinder haben gegessen, Wedekind räumt die Küche auf. Weitere Nachrichten zur Nominationsversammlung treffen ein. Die Ermenseerin holt das Programm der Versammlung hervor. Die Reden beginnen spät. «Langsam werde ich nervös.»

Frisuren machen Leute

Neun Stunden vor dem Wahlergebnis: Wedekind sitzt im Coiffeur-Salon von Luzia Bärtschi in Ermensee. Die Coiffeuse ist Mitglied im Verein «Neu! Netzwerk», den Wedekind gegründet hat. Dieser fördert den Austausch von Unternehmerinnen, die zu Hause einen eigenen Betrieb führen. Bärtschi wäscht Wedekind die Haare. Die Frisur ist der Politikerin im Hinblick auf die Nominationsversammlung wichtig. «Verschiedene Frisuren haben verschiedene Wirkungen», sagt sie. Wie sie selbst wirkt? «Taff. Wie jemand, der weiss, was sie will. Ich strahle Stärke aus.» Sie habe aber längst nicht immer alles im Griff. «Manchmal werde ich als etwas kühl wahrgenommen.» Was sie aber überhaupt nicht sei.

Genauso wichtig wie die Frisur findet Wedekind das richtige Outfit. Sie hat sich für den Anlass einen grauen Hosenanzug gekauft. Doch diesen wird sie nicht anziehen. Mit einem Schwarzen geht sie auf Nummer sicher. Während des Nominationsverfahrens wurden die Kandidatinnen mehrfach nach ihrem Äusseren beurteilt. «Das passiert nur bei Frauen.» Bärtschi kürzt Wedekind eine Haarsträhne und beginnt dann die Haare zu föhnen. «Nicht zu voluminös», sagt Wedekind. Sie nimmt ihr Handy hervor, stoppt die Zeit und beginnt, ihre Rede zu üben. Sie dauert etwas mehr als sechs Minuten. «Das ist zu kurz.»

Claudia Wedekind übt während ihres Coiffeur-Termins ihre Rede.

Vom Coiffeur-Salon in den Stall

Acht Stunden vor dem Wahlergebnis: Die Sonne scheint, Wedekind führt ihr Pony und ihr Pferd nach dem Coiffeur auf die Weide. Die Ermenseerin reitet seit ihrer Kindheit, früher nahm sie an Concours teil. Jeden Morgen, Mittag und Abend geht sie in den Stall. Wedekind kehrt den Mist im Auslauf zusammen. Bei den Pferden tankt sie Kraft, auch für heute Abend. Unterstützung erhält sie ebenfalls von Manuela Müller, die in der Nachbarschaft wohnt – sowohl politisch als auch privat. Wedekind stattet ihr einen Besuch ab. Ist bei ihr über den Mittag niemand zu Hause, dürfen ihre Kinder bei Müller essen. So auch am Tag nach der Nominationsversammlung. Schnell kommen die beiden Frauen auf den Anlass zu sprechen. Müller holt ihren Stimmzettel hervor. Diese Stimme hat die Politikerin auf sicher.

Claudia Wedekind bringt ihr Pferd und Pony auf die Weide.

«Es wird schwierig, nominiert zu werden», sagt Wedekind. Auf keinen Fall möchte sie nach dem 2. Wahlgang ausscheiden. Die Kritik an ihrer Kandidatur hält sich hartnäckig. «Wenn der Wahlkreis das einzige Argument gegen mich ist, spricht das aber eigentlich für mich.» Als Favoritin gilt die 45-jährige Wikoner Gemeindepräsidentin und Kantonsrätin Michaela Tschuor. Sie selbst punkte mit ihrer Parlamentserfahrung, sei im ganzen Kanton gut vernetzt und habe die Fähigkeit mit allen Menschen auf Augenhöhe zu reden, sagt Wedekind. Aus ihrer Sicht ist die Wahl noch nicht entschieden. Mit einem «Knaller» will sie am Abend noch einige Stimmen gewinnen.

Der «Knaller»

Zurück im Brauisaal: Wedekind tritt ohne Notizen auf die Bühne. Applaus. Die Zeit läuft. «Eine Nomination und der daraus folgende Wahlkampf ist immer eine gemeinsame Sache. Eine Aktion von Menschen mit gleichen politischen Ideen und Vorstellungen», sagt sie zu den Delegierten. «Ich will Regierungsrätin werden, um Sorgen, Anliegen und Bedürfnisse der Luzernerinnen und Luzerner in der Politik einzubringen.» Zuhören. Entscheiden. Handeln. Deshalb sei sie fähig, Regierungsrätin zu sein. Mit ihr erhalte der Kanton Luzern eine Kandidatin, die mit Leidenschaft und Herzblut politisiere, die sich positioniere und auch exponiere. Bevor die sieben Minuten verstreichen, schliesst Wedekind ihre Rede mit den Worten: «Lassen Sie uns Politik machen, die sitzt, und lassen Sie uns gemeinsam gewinnen.» Applaus.

Zurück am Platz lässt Wedekind ihre Notizen in der Tasche verschwinden. Sie nimmt ihr Handy hervor. Die ersten Rückmeldungen zur Rede treffen ein. «Ich glaube, es war gut», sagt die Ermenseerin. Ihre Sitznachbarinnen bestärken sie. Es sind Melanie Casanova-Gubser, Co-Präsidentin der Mitte Wahlkreis Hochdorf und ihre Töchter Cheyenne und Jiline Casanova. Nun hat Letztere Notizkarten vor sich. Gleich tritt sie auf die Bühne – als Gotti von Wedekind, als ihren «Knaller». «Ich stehe voll hinter Claudia, sonst hätte ich die Rolle nicht übernommen», sagte die Schongauerin vor der Versammlung. Die 16-Jährige sammelte im Vorstand des Jugendparlaments des Kantons Luzern erste politische Erfahrungen und ist Mitgründerin sowie im Vorstand der Jungen Mitte Wahlkreis Hochdorf. Bevor sie auf die Bühne geht, lächelt Wedekind ihr zu: «Du wirst das gut machen.» Applaus. Mit den Worten, «Claudia Wedekind fördert und fordert Junge, junge Menschen», eröffnet Jiline Casanova ihre Rede. Sie beschreibt die Nominationskandidatin als eine Person, die Mut macht, jemanden der für die Zukunft denkt und handelt. «Sie ist für mich ein echtes Vorbild.» Die Begeisterung von Wedekind für die Politik berühre sie und motiviere sie, selbst politisch aktiv zu sein. Casanova erhält für ihre Rede gleich doppelten Applaus. Der 1. Wahlgang steht an. Wedekind kreuzt auf dem grünen Abstimmungszettel ihren Namen an.

Ein Spiel, das fasziniert

«Der Regierungsrat wäre eine riesige Kiste», sagte Wedekind ein paar Stunden zuvor. Eigentlich sei Politik furchtbar. Einsam. Nicht lustig. «Es ist ein Spiel», sagt sie. Eines, das sie fasziniert. «Man kann in der Politik etwas bewirken.» Im Kantonsrat hätte Wedekind mehr Freiheiten als im Regierungsrat. «Ich hätte aber extrem Lust, Verantwortung zu übernehmen.» Politik machen für die Bevölkerung. Im Wind stehen. Dafür habe sie die Stärke. «Ich weiss, was es heisst, schwierige Situationen auszuhalten.» Gerade darum, weil sie eine Person sei, die oft anecke. Ihre direkte Art verunsichere Menschen oft. Anzuecken habe sie aber auch stärker gemacht. «Ich bin gut vorbereitet für den Job. So selbstbewusst bin ich mittlerweile.»

Das Wahlergebnis

Die Resultate des 1. Wahlgangs stehen fest. Während Ineichen die Anzahl Stimmen vorliest, bleibt Wedekind ruhig, notiert sich die Zahlen: Michaela Tschuor, 246 Stimmen. Manuela Jost-Schmidiger, 98 Stimmen. Michèle Albrecht, 87 Stimmen. Claudia Wedekind, 72 Stimmen. Damit verpasst Tschuor das absolute Mehr von 252 Stimmen nur knapp und hängt damit ihre Mitstreiterinnen klar ab. Wedekind legt ihren Stift zur Seite, isst ihre Portion Hörnli mit Gehacktem weiter. Vor der Versammlung war sie zu nervös, um zu essen. «Hoffentlich entscheidet es sich nun im 2. Wahlgang», sagt sie. Ihr Wunsch geht in Erfüllung.

«Ich bin und bleibe 
politisch aktiv»

Sie wusste, es wird schwierig, als Regierungsratskandidatin nominiert zu werden: «Ich ging als Aussenseiterin in dieses Nominationsverfahren hinein, das war mir bewusst»», sagt Wedekind. Trotzdem ist sie am Freitag nach der Versammlung enttäuscht. «Ich hätte natürlich gerne gewonnen.» Auch für den Wahlkreis sei die Nicht-Nomination eine Ernüchterung. Das klare Resultat habe gezeigt: «Die Meinungen wurden bereits vor den Präsentationen der Kandidatinnen gemacht.» Einerseits fände sie das schade, sie könne das Resultat aber «sehr gut annehmen».

Wedekind sieht sich nicht als Verliererin. «Mit der Wahl von Jiline als Gotti habe ich ein klares Bekenntnis und Zeichen für die Jungen gesetzt, so wie keine andere Kandidatin.» Damit habe sie bewiesen: «Ich rede nicht nur, sondern mache.» Ihr politisches Engagement leide nicht unter der Nicht-Nomination. Weiterhin gilt: Zuhören, Entscheiden, Handeln. Ende November findet eine von ihr organisierte Lesung mit politischen Persönlichkeiten statt, am Montag wurde ihre Motion Hundesteuer im Kantonsrat mit 99:0 überwiesen. Zudem reichte Wedekind eine Dringliche Anfrage zum bevorstehenden Flüchtlingsstrom ein. «Ich bin und bleibe politisch aktiv.» Noch einmal für den Regierungsrat zu kandidieren, kann sich die Ermenseerin zurzeit nicht vorstellen. Sie blickt nun mit «Zuversicht und Freude» auf die Kantonsratswahlen.

Zur Person

Die 47-jährige Claudia Wedekind wuchs in Hochdorf auf und wohnt heute in Ermensee. Wedekind politisiert seit zwei Jahren im Luzerner Kantonsrat. Dort ist sie Mitglied der Staatspolitischen Kommission. Seit vier Jahren ist sie Synodale im Parlament der Katholischen Landeskirche Luzern. Regelmässig organisiert sie politische Veranstaltungen, dazu hat sie weitere politische Ämter inne. So ist sie Präsidentin des Fördervereins des regionalen Entwicklungsträgers Idee Seetal und präsidiert ihren gegründeten Verein «Neu! Netzwerk». Wedekind ist ausgebildete Primar- und Seklehrerin, Mutter von drei schulpflichtigen Kindern und arbeitet in der Funktion als stellvertretende Geschäftsleiterin bei der Pflegefamilienorganisation Subito in Emmen. mst