Mit der Aufnahme der französischen Bourbaki-Armee hat die Schweiz bereits 1871 bewiesen: Solidarität geht über Landesgrenzen hinaus.
Fremde wurden damals im Land willkommen geheissen: Sie wurden ernährt, gepflegt und beschenkt. Kulturelle Differenzen wurden beiseitegelegt. Die Angst gegenüber dem Unbekannten wurde überwunden. Seit der Bourbaki-Internierung gilt die Solidarität als wichtiger Wert für die Schweiz.
150 Jahre später ist die Solidarität in unserer Gesellschaft wieder so präsent wie lange nicht mehr. Der Grund: das Coronavirus. Seit dem Ausbruch der Pandemie vor einem Jahr appelliert der Bundesrat an die Bevölkerung: «Seien Sie solidarisch – bleiben Sie zu Hause.» Im Frühling werden Nachbarschaftshilfen organisiert. Freiwillige kaufen für Risikopersonen ein. Klein und Gross treten auf den Balkon und klatschen für das Pflegepersonal. Im Verlauf der Krise scheinen diese kleinen solidarischen Momente immer mehr verloren gegangen zu sein. Im November steigen die täglichen Fallzahlen auf Rekordwerte – die Spitäler kommen an ihre Grenzen. Die Solidarität im grossen Stil bleibt dieses Mal aus. Das Corona-Monitoring vom 28. Oktober, welches das Forschungsinstitut «Sotomo» im Auftrag der SRG SSR erstellt, unterstreicht: Gegenüber der ersten Welle ist unter den Befragten die Bereitschaft zur Nachbarschaftshilfe und zur Kontaktaufnahme mit anderen Menschen gesunken. Dafür sind die Ängste gestiegen: vor einer Erkrankung, vor einem Zusammenbruch des Spitalwesens, vor Isolation und Konflikten innerhalb der Familie.
Angst ist der Feind der Solidarität.Studien aus der Katastrophensoziologie zeigen: Bei einem Erdbeben reagieren Menschen solidarischer als bei einer Epidemie. Denn bei einer Seuche fürchten sich die Menschen voreinander. Die Angst frisst im schlimmsten Fall die Hilfsbereitschaft. Die Menschen setzen das eigene Überleben in den Vordergrund. Ein Phänomen, das sich teilweise auch bei der Corona-Pandemie beobachten lässt – spätestens seitdem Impfungen verfügbar sind.
Der Wettlauf um die Dosen hat begonnen. Politiker und Milliardäre stellen sich über Risikopatienten und verschaffen sich über Kontakte Zugang zu Impfdosen. Reiche Länder decken sich mit Impfstoff ein und beginnen ihre Kampagnen, während die ärmeren Staaten leer ausgehen. Solidarität sieht anders aus.
Die Covax-Initiative nimmt sich dieses Problems an. Ihr Ziel ist die faire Verteilung von Corona-Impfstoffen auf der ganzen Welt: Reiche Länder finanzieren die Impfstoffdosen für einkommensschwache Staaten mit. Geleitet wird die Initiative von der globalen Impfallianz Gavi, mit Hauptstandort in Genf, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Koalition für Innovationen zur Vorbereitung auf Epidemien (CEPI). Die Schweiz beteiligt sich an der Covax-Initiative. Die Solidarität zahlt sich aus: Ende Februar hat Ghana als erstes Land durch die Initiative Impfstoff erhalten.
Die Corona-Pandemie betrifft die ganze Welt. Die Krise kann nur überwunden werden, wenn alle am selben Strang ziehen. Ohne Frage: Eine weltweite Pandemie kann man schwer mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871 vergleichen. Doch etwas hat sich in den 150 Jahren nicht verändert: Solidarität muss über die Landesgrenze hinaus gehen.