Vor fünf Jahren wurde die Herzschlaufe Seetal eröffnet. Was hat die Veloroute dem Tourismus in der Region gebracht? Unsere Redaktorin hat sich selbst aufs Rad gesetzt – und Antworten gesucht. Ein Erlebnisbericht.

Der Motor des E-Bikes surrt, während mir der kalte Wind ins Gesicht bläst. Ich trete noch ein paar Mal in die Pedale. Der erste Hügel meiner Velotour ist geschafft. Das hätte ich mir anstrengender vorgestellt. Beeindruckt von der Leistung des E-Bikes halte ich einen Moment inne. Ich geniesse die Aussicht über Eschenbach, blicke auf den Pilatus, die Rigi und den Titlis. Mein Blick schweift auf das Dorf mit den Türmen der Klosterkirche. Dort hat meine Reise vor einigen Minuten begonnen.
Im Café Brioche in Eschenbach befindet sich die E-Bike-Mietstation der Herzschlaufe Seetal. Diese wurde am 30. April und 1. Mai vor fünf Jahren eröffnet und ergänzt die Herzroute, welche auf Velostrecken quer durch die Schweiz vom Genfer- an den Bodensee führt. Die Idee Seetal hat Seetal Tourismus damals den Vorschlag für die Herzschlaufe unterbreitet. «Es zeigte sich, dass die Route Potenzial hat und sich die Chance eröffnete, das Seetal von einer neuen, unbekannten Seite zu zeigen», sagt Romana Wietlisbach von Seetal Tourismus. «Mit der Herzschlaufe standen nicht der Hallwiler- und der Baldeggersee im Vordergrund, sondern die verborgenen Schönheiten des Seetals.» Das überzeugte die Tourismus- organisation und so übernahm sie die Verantwortung für die Umsetzung der Herzschlaufe.
Von Eschenbach führt die Herzschlaufe über einen Ost- und einen Westast nach Lenzburg. Der Westast geht über Beromünster, Triengen und Schöftland. Ich werde die Route über den Ostast wählen, welche auf weiten Strecken durch das Lesergebiet des «Seetaler Bote» führt. Begleitet werde ich auf der Velotour von meinem Vater, einem leidenschaftlichen Velofahrer, der oft stundenlange Routen auf seinem Rennvelo absolviert. Heute nimmt er es mit dem E-Bike für einmal etwas gemütlicher.
Um halb zehn holten wir die E-Bikes beim Café Brioche ab. Der Geschäftsführer des Cafés, Daniel Kronenberg, erklärte uns den richtigen Umgang mit den Fahrrädern. Wir sitzen zum ersten Mal auf einem solchen Gefährt. «Die E-Bike-Station bedeutet für das Tagesgeschäft einen Mehraufwand», sagt Kronenberg. Doch diesen nehme er gerne in Kauf. Viele Velofahrer trinken noch einen Kaffee, bevor sie ihre Reise antreten. Jährlich macht das «Brioche» mit dem E-Bike-Geschäft einen Konsumationsumsatz von etwa 2000 Franken. «Die Bike-Vermietung hat der Bekanntheit unseres Cafés sicher nicht geschadet», so der Mitinhaber.
Schnell fand ich mich dank den Anweisungen von Kronenberg mit dem E-Bike zurecht. Die Reise begann.
Ich lasse Eschenbach hinter mir und radle noch etwas unsicher durch die Seetaler Landschaft. Vor mir liegen 48 Kilometer und 850 Höhenmeter. Kein Klacks für jemanden, dessen Velo seit Jahren in der Garage parkt. Ich folge den Veloweg-Schildern mit der Nummer 599, fahre vorbei am Gütschweiher in Ballwil bis nach Hohenrain.
Bereits von Weitem erblicke ich auf einem Hügel die Johanniterkommende mit dem Turm Roten. Der letzte Abschnitt hat es in sich. Ich schalte die höchste Unterstützungsstufe des E-Bikes ein, trete noch einmal kräftig in die Pedale – und geschafft. Die Kommende Hohenrain ist ein Wehrkomplex aus dem 12. Jahrhundert und wurde durch Mitglieder des Johanniterordens erstellt. Heute wird die Anlage von heilpädagogischen Einrichtungen genutzt.
Hier legen wir einen Halt ein und blicken von der Aussichtsplattform auf die noch kargen Weinberge, die Häuser von Hochdorf und die Berge in der Ferne. Ein feiner Schleier beeinträchtigt die Sicht.
Nach der Verschnaufpause geht die Velotour weiter: vorbei an Rapsfeldern und blühenden Bäumen. Inzwischen fühle ich mich sicher auf dem E-Bike und lege einen Zahn zu, fahre an einem Bauernhaus vorbei und bin überrascht, als ich sie erblicke: die Kapelle Maria zum Schnee in Kleinwangen. Die Glocken der Kapelle beginnen zu läuten – es ist bereits 12 Uhr.


Schnell ist das Glockengeläut nur noch von Weitem zu hören. Zügig geht es einen Hügel hinab, der kalte Wind bohrt sich durch meine Jacke. Die Herzschlaufe führt direkt durch den Fohrenhof. Hier wohnt die Familie Felder. Sie hat auf ihrem Anwesen einen Sitzplatz für die Velofahrer eingerichtet und verkauft in einer kleinen Hütte Getränke und Kaffee sowie selbst gemachte Geschenkartikel in Selbstbedienung. Auch wir nutzen die Gelegenheit für eine Pause. Neben dem Sitzplatz wälzt sich gerade eine Ziege im Gras, ein junges Schaf schaut neugierig hinüber. Zwei Gänse begrüssen uns mit lautem Geschnatter.
Der Fohrenhof bietet nicht nur Platz für kurze Verschnaufpausen – auch übernachten kann man auf dem Hof: «Da wir nicht am Anfang oder Ende der Herzschlaufe liegen, haben wir nur vereinzelt Gäste, die wegen der Herzschlaufe bei uns schlafen», sagt Priska Felder-Rüttimann. In letzter Zeit seien aber vermehrt Buchungen von Schweizer Familien eingegangen. Ausserdem: «Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie sind viel mehr Velofahrer wie auch Fussgänger jeder Altersklasse unterwegs.» Das habe aber nicht nur Vorteile: «Viele Velofahrer fahren mit sehr hoher Geschwindigkeit durch unseren Betrieb», erzählt Felder. Für die Kinder auf dem Hof bedeutet das ein Sicherheitsrisiko.
Vom Fohrenhof in Kleinwangen geht es weiter in Richtung Lieli: mit Blick auf den Baldeggersee und die mit Löwenzahn übersäten Wiesen. Es geht bergauf. Wieder lasse ich das E-Bike seine Arbeit machen. Die Steine der Burgruine Nünegg lassen sich durch die Äste des Waldes erkennen. Der nächste Halt steht an.
Die Nünegg ist eine der best erhaltenen Burgruinen im Kanton Luzern. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert und wurde damals von eidgenössischen Truppen zerstört. Die Burg diente der Umgebung später als Steinbruch und ist heute ein Treffpunkt für Pfadfinder und Picknicker.
Ich betrete die Burgruine und werde sofort zur Touristin, zücke meine Kamera und beginne die Steinmauern zu fotografieren. Die neuneckige Form der Burgruine fasziniert mich. Über eine Wendeltreppe geht es hinauf auf eine Aussichtsplattform. Ich bestaune einen Moment die Sicht auf den Baldeggersee, dann geht es wieder weiter mit dem E-Bike.


Wir überqueren die Luzerner Kantonsgrenze, fahren entlang der Horben-Hochebene mit Aussicht auf die Innerschweiz, radeln vorbei an der Alpwirtschaft Horben. Die Veloroute führt über den Lindenberg zurück in den Kanton Luzern. Die Naturstrassen im Wald schütteln mein E-Bike durch. Ein Reh raschelt wenige Meter von der Strasse entfernt im Gebüsch. Bergab fahre ich langsamer und weiche Unebenheiten aus, um Schläge auf mein ohnehin schon schmerzendes Gesäss zu verhindern. Der Wald lichtet sich, auf der asphaltierten Strasse fällt mir das Bremsen wieder leichter. Wir erreichen Müswangen und fahren vorbei an der Pfarrkirche Vierzehn Nothelfer mit ihrer eindrücklichen neubarocken Fassade.
Zum ersten Mal verlassen wir die Veloroute 599. Anstatt auf die Schongauerstrasse abzubiegen, bleiben wir auf der Dorfstrasse. In weniger als fünf Minuten erreichen wir das Gasthaus Hämikerberg. Hier legen wir unsere etwas verspätete Mittagspause ein, inzwischen ist es halb zwei. Die Restaurants dürfen ihre Terrassen seit wenigen Tagen wieder öffnen.
«Da wir nicht direkt an der Herzschlaufe liegen, haben sich zunächst nur wenige Velofahrer zu uns verirrt», sagt Ines Thomi, Inhaberin des Gasthauses Hämikerberg. Seit einem Jahr habe sich das geändert. Seither ist das Gasthaus im Routenführer der Herzschlaufe aufgeführt. Auch das Übernachtungsangebot werde rege genutzt. Die Gäste kommen hauptsächlich aus der Schweiz. «Die Velofahrer schwärmen immer von der wunderschönen Seetaler Landschaft, wenn sie bei uns ankommen», erzählt Thomi. Die Wirtin ist überzeugt: «Die Velos und E-Bikes haben Zukunft.» Sie beobachtet, dass auch vermehrt Leute aus der Region mit dem E-Bike ankommen. Viele mit ihrem eigenen.
Thomi geht davon aus, dass sie in Zukunft noch mehr Velofahrer zu ihren Gästen zählen darf. Die E-Bike-Aufladestation der Herzschlaufe wird vom Schongiland demnächst zum Gasthaus verlegt. Das sei optimal, sagt sie. «Während dem Akkuaufladen können sich die Gäste verpflegen oder eine Runde Spielgolf auf unserer Anlage spielen.»
Darauf verzichten wir heute und schwingen uns wieder auf den Sattel. Diesmal biegen wir auf die Schongauerstrasse ab, fahren am Schongiland vorbei und überqueren schliesslich die Aargauer Grenze. In Sarmenstorf stellt uns eine Strassenkreuzung vor ein Rätsel. Wohin zeigt das dunkelrote Veloweg-Schild mit der Nummer 599? Geradeaus? Doch nach links? Wir entscheiden uns für das Letztere, fahren eine Strasse nach unten, bis zur nächsten Kreuzung. Von einem weiteren Veloweg-Schild fehlt jede Spur. Etwas genervt kehren wir um, die Strasse hoch. Ich stelle den E-Bike-Motor auf die höchste Stufe. Diesmal geht es geradeaus. Bei der nächsten Abzweigung die Erleichterung: Das Veloweg-Schild zeigt wieder klar den Weg an.
Auf dem richtigen Kurs radeln wir durch das Aargauer Seetal bis zum Schloss Hallwyl. Hier steht die letzte Pause auf unserer Velotour an. Nach einem Spaziergang über den Schlossplatz beginnt die letzte Etappe.
Die Velostrecke führt lange über Naturstrassen am Aabach entlang und durch den Wald. Ich merke, wie meine Arme und Beine müde werden. Dann lichtet sich der Wald und ich erblicke es: das Schloss Lenzburg.
Das Ende der Herzschlaufe ist bald erreicht. Ich blicke auf die Kilometeranzeige des E-Bikes. Der Akku reicht noch locker. Ich sammle meine restlichen Kräfte und trete nochmals in die Pedale. Das Zentrum von Lenzburg zieht an mir vorbei. Aber halt: Haben wir wieder eine Wegmarkierung übersehen? Nach einer Extraschlaufe und mithilfe der Navigations-App auf dem Handy kommen wir um etwa fünf Uhr nachmittags mit staubigen Kleidern, stolz aber erschöpft beim Mercure Hotel Krone in Lenzburg an. Die 48 Kilometer sind geschafft!


Hier geben wir unsere E-Bikes ab. Gemäss Seetal Tourismus werden jährlich zwischen 500 und 800 Vermietungen auf der Herzschlaufe abgewickelt. Die meisten davon in den Sommerferien zwischen Juli und August: «Aber auch im Frühling und Herbst sind Velofahrer unterwegs», sagt Wietlisbach. Bei der Station in Lenzburg werden mit etwa 60 Prozent mehr Velos vermietet als in Eschenbach.
Rund 20 Prozent der Velomieter verbringen zwei Tage auf der Herzschlaufe und fahren über den West- und Ostast wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. Wer in Lenzburg startet, plant in der Hälfte der Strecke eine Übernachtung ein. Beispielsweise im Bed and Breakfast Seetal in Eschenbach.
Rita Anderhub vermietet dort seit acht Jahren Zimmer in einem Bauernhaus. «Mit der Eröffnung der Herzschlaufe haben vor fünf Jahren die Übernachtungen von Velofahrern zugenommen», sagt Anderhub. 2019 beherbergte sie um die 60 Velofahrer in ihrem BnB, im letzten Jahr waren es sogar 95. Die Velofahrer machen etwa 80 Prozent ihrer Gäste aus. Viele davon kommen aus Zürich und Basel. Die Corona-Pandemie hat den Veloboom angeheizt und Anderhub neue Kunden beschert. «Im letzten Jahr kamen auch vermehrt Gäste aus dem Welschland und dem Tessin», sagt die Gastgeberin. «Zudem werden die Velofahrer immer jünger», sagt Anderhub. Früher kamen hauptsächlich Seniorinnen und Senioren bei ihr unter. Mittlerweile sind die jüngsten Gäste um die 30 Jahre alt. Sie bestätigt den Trend, den bereits Ines Thomi vom Gasthaus Hämikerberg angesprochen hat: Immer mehr Gäste kommen mit dem eigenen E-Bike.
Wie Seetal Tourismus diese Entwicklung wahrnimmt? «Wie sich das auf die Vermietungen auswirken wird, wird sich in den nächsten Jahren zeigen», sagt Wietlisbach. Sie geht aber davon aus, dass Gäste, die mit dem eigenen Velo auf der Strecke unterwegs sind, gleich viel Geld ausgeben wie diejenigen mit gemieteten E-Bikes. «Das Mietvelo bleibt für Ausflügler, welche mit dem öffentlichen Verkehr anreisen, eine gute Alternative», sagt sie.
Seetal Tourismus zieht nach fünf Jahren eine positive Bilanz: «Wir stellen fest, dass die Herzschlaufe rege genutzt wird und die Hotels und BnBs häufiger Velofahrer beherbergen dürfen als vor der Eröffnung», sagt Wietlisbach. Sie glaubt daran, dass sich das in Zukunft nicht ändern wird, im Gegenteil: «Der Trend hin zu einem nachhaltigen Tourismus als Gegenpol zum Massentourismus wird sich fortsetzen», sagt die Tourismusfachfrau. Die Herzschlaufe Seetal sei dafür genau das Richtige.
Den Rückweg nach Eschenbach legen wir von Lenzburg mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Mit dem Blick aus dem Fenster lasse ich den Tag nochmals Revue passieren.
Mit dem E-Bike ist die Strecke von Eschenbach bis nach Lenzburg gut machbar, für ungeübte Velofahrer wie mich aber nicht zu unterschätzen. Für meinen Vater hingegen waren die 48 Kilometer mit dem E-Bike schon fast ein Katzensprung. Dennoch hat er die «gemütliche Velofahrt durch das Seetal genossen».
Wenn man sich die Zeit nimmt, gibt es auf dem Ostast der Herzschlaufe diverse Sehenswürdigkeiten und Plätze, wo man Pausen einlegen und sich stärken kann. In Zukunft soll es neben Restaurants und Picknick noch eine andere Möglichkeit geben, um sich auf der Herzschlaufe zu verpflegen: Seetal Tourismus plant den ersten «FoodTrail» für E-Bikes in der Schweiz. Gemäss Planung verläuft der «FoodTrail» teilweise auf dem Ostast der Herzschlaufe. «Unterweges lernen die Gäste an verschiedenen Genussstationen regionale Produkte kennen», sagt Romana Wietlisbach. Details zu der geplanten Genussroute will Seetal Tourismus zu einem späteren Zeitpunkt bekannt geben.
Abschliessend hat mich die Herzschlaufe überrascht. Als Nicht-Seetalerin war die E-Bike-Tour für mich eine optimale Gelegenheit, die Region besser kennenzulernen. Mit so schönen verborgenen Ecken hätte ich nicht gerechnet. Mit einem Rucksack voller neuer Eindrücke – und einem schmerzenden Hintern – kehre ich nach Eschenbach zurück. Dort, wo am Morgen die Reise mit dem E-Bike begann.
