Zwei Schwestern zwischen Krieg und Frieden

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine flüchten Yasna und Nina Zadorozhna von Kiew in die Schweiz. Im Sommer trennen sich ihre Wege. Yasna bleibt, Nina kehrt zurück in ihre Heimat. Das haben sie erlebt.

Fünf Monate wohnen Nina (links) und Yasna bei der Familie Koch-Weber in Hochdorf. Hier stehen sie Ende August am Baldeggersee, kurz bevor sich ihre Wege trennen. Foto: Milena Stadelmann

Eine Holzkuh – mit roten Flecken, Edelweisshalsband und goldener Glocke – befindet sich in Yasnas Zimmer in Winterthur. Als ob sie friedlich grasen würde, steht sie im Bücherregal der 18-Jährigen. Hier herrscht Frieden. Eine identische Holzfigur steht ebenso friedlich 2000 Kilometer entfernt in Kiew, im Zimmer ihrer 15-jährigen Schwester Nina. Doch die Idylle trügt, es herrscht Krieg. Die Holzkühe sind Geschenke ihrer Hochdorfer Gastfamilie. Sie sind eine Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit in der Schweiz. 

Invasion und Flucht

24. Februar, Kiew. Yasna Zadorozhna, die Ältere, schreckt am frühen Morgen von einem lauten Knall auf. Sie übernachtet mit ihrem Vater im Landhaus der Familie in Wassylkiw, einer kleinen Stadt, etwa fünfzig Minuten von Kiew entfernt. Zuerst denkt sie, dass der Lärm von Jägern stammt. Ihr Vater Gennadiy ist ebenfalls wach. Yasna spürt: Etwas stimmt nicht. Der Vater sagt: «Der Krieg hat begonnen.»

 

Als Nina Zadorozhna, die Jüngere, in der Kiewer Wohnung aufwacht, steht Mutter Tetyana am Fenster. Sie telefoniert mit Gennadiy. Nina hört «Krieg» und beginnt zu weinen. Schnell packt sie mit ihrer Mutter einen Koffer, sie wollen zur restlichen Familie fahren. «Nimm nicht zu viele Kleider mit», sagt die Mutter zu Nina. Sie glaubt, dass sie bald zurückkehren. Der Weg zum Landhaus dauert lange. Viele wollen Kiew verlassen, Autos fluten die Strassen.

 

Im Landhaus bleibt die Familie zehn Tage, zusammen mit weiteren Verwandten und Bekannten. Die Schwestern hören immer wieder Explosionen. Um Nina zu beruhigen, erzählt die Mutter, dass es gewittert. Manchmal fliegen Helikopter nahe über das Haus. Als die Familie eines Abends Wareniki, ukrainische Teigtaschen, kocht, hören sie ein lautes, ratterndes Geräusch. Eine scheinbar unendliche Kolonne von Panzern – vermutlich ukrainische – fährt am Haus vorbei in Richtung Kiew. Für die Mutter ist klar: Die Familie muss weiterziehen. Nina versteht: Was sie gehört hatte, waren keine Gewitter. 

 

Kurz darauf fahren Nina und Yasna mit ihren Eltern zu Verwandten nach Kalusch, im Westen der Ukraine. Zum ersten Mal erleben sie einen Luftalarm. «Es war so laut», sagt Yasna. Dort erfährt die Familie von der Ukrainerin Julija Steinmann, die in Hochdorf lebt und sich mit ihrem Verein «Ukrainian minds of the future» für jugendliche Flüchtlinge einsetzt. Die Familie Zadorozhna entscheidet: Nina und Yasna sollen in die Schweiz.

 

Gennadiy fährt die drei Frauen von Kalusch nach Chop an die ukrainisch-ungarische Grenze. Der Bahnhof ist voller Menschen, die das Land verlassen wollen. Nina und Yasna müssen sich von ihrem Vater verabschieden. Er bleibt zurück. Für ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren gilt ein Ausreiseverbot. Eine Wehrpflicht gibt es jedoch nicht.

Ankunft und Abschied

20. März, Hochdorf. Die Schwestern und ihre Mutter kommen mit nur einem Koffer in Hochdorf an.

 

Die Reise mit dem Zug über Ungarn dauerte zwei Tage. Chop – Záhony – Budapest – Zürich. In der Schweiz schaute Yasna immer wieder aus dem Fenster. «Es sah sehr schön aus», sagt sie. Doch die Schwestern sind nervös, sie wissen nicht, was sie erwartet.

 

Die Hochdorfer Behörden teilen die Schwestern der Gastfamilie Koch-Weber zu. Hier beziehen sie das gemeinsame Gästezimmer. Auf dem Nachttisch stehen Blumen und eine Karte. «Laskavo prosymo» steht darauf, ukrainisch für «Herzlich willkommen». «Als unsere Mama das gesehen hat, begann sie zu weinen», sagt Nina. Noch am Abend reist Tetyana zurück nach Kiew, sie will ihren Mann nicht allein lassen. Auch kann sie als Hochschullehrerin Geld verdienen. Gennadiy hat seinen Job als Fluglotse verloren. Auf einen Schlag wird Nina und Yasna bewusst: Ihr Leben hat sich radikal verändert. Sie wohnen jetzt ohne ihre Familie in einem fremden Land, in einem fremden Haus, mit sechs fremden Menschen. Und der Katze Mörli.

Gastfamilie und Gasttöchter: (v.l.) Patrick und Christin Koch-Weber, Stefan Koch, Nina und Yasna Zadorozhna und David Koch. Foto: Milena Stadelmann

Status S und Schulalltag

Der Einzug der Schwestern bedeutet auch für die Gastfamilie eine Veränderung. «Es ist eine grosse Verantwortung, sich um zwei Teenager zu kümmern», sagt Christin Koch-Weber, selbst Mutter von vier Kindern zwischen 16 und 23 Jahren. Auch die Gastgeschwister müssen sich an den Familienzuwachs gewöhnen. Obwohl Nina und Yasna seit der ersten Klasse Deutsch lernen, haben sie Mühe, alles zu verstehen. Sie fühlen sich verunsichert. Wenn möglich, verlassen sie das Zimmer nur gemeinsam.

 

Die Gastfamilie begleitet die Schwestern nach ihrer Ankunft nach Chiasso, wo sie sich für den Status S registrieren lassen. Es ist chaotisch, sie müssen mehrere Stunden anstehen. «Das war kein schöner Start», sagt Gastvater Patrick Koch. Zu Beginn stemmt die Gastfamilie einen Grossteil der Kosten für die Schwestern allein, ihr Umfeld unterstützt sie, beispielsweise mit Kleiderspenden. Ab Mai bekommen Nina und Yasna finanzielle Hilfe vom Kanton, wovon sie ihrer Gastfamilie einen Teil abgeben können. Im Kanton Luzern beläuft sich zu diesem Zeitpunkt die Hilfe für Geflüchtete in einer Gastfamilie auf etwa 400 Franken pro Monat.


Der Bundesrat hat per 12. März den Schutzstatus S für Personen aus der Ukraine aktiviert. Dieser dient dem vorübergehenden Schutz für die Dauer einer «schweren allgemeinen Gefährdung». Mittlerweile haben mehr als 73’000 Personen aus der Ukraine diesen Schutz in der Schweiz erhalten. Gemäss der Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen leben Anfang Januar rund 2700 Personen mit Schutzstatus S im Kanton Luzern. In Hochdorf sind es laut der Gemeinde 32 Ukrainerinnen und Ukrainer.

 

Nach wochenlangen Kämpfen um die ukrainische Hauptstadt erklären die ukrainischen Behörden am 2. April, dass die gesamte Region Kiew wieder unter ihrer Kontrolle sei. Währenddessen leben sich Nina und Yasna bei ihrer Gastfamilie ein. «Sie haben sich von Anfang an gut integriert und auch im Haushalt Ämtchen übernommen», sagt Christin Koch. Missverständnisse können schon bald angesprochen werden. Nina taut immer mehr auf, ihr Deutsch wird besser. In den Alltag der Ukrainerinnen kehrt Routine ein. Fast täglich telefonieren sie mit ihren Eltern. «Wir vermissen sie natürlich sehr», sagt Nina. Insbesondere am Muttertag und an ihren Geburtstagen. Die Schwestern besuchen die Kantonsschule Seetal. Die Jüngere die dritte, die Ältere die fünfte Klasse. Zwei ukrainische Schulkolleginnen und -kollegen von Yasna sind ebenfalls an der Kanti. Nina ist einsam: «Ich habe hier nur Yasna.» Yasna fühlt sich für Nina verantwortlich. Sie toleriert, wenn ihre jüngere Schwester etwas macht, das sie nicht mag. Sie will nicht streiten.

 

Ende August geht die gemeinsame Zeit in Hochdorf zu Ende.

 

Im Video erzählen die Schwestern, was sie über ihre bevorstehende Trennung denken:

 

Bleiben und Gehen

20. August, Hochdorf. Das erste Mal seit März dürfen die Schwestern ihre Mutter wieder in die Arme schliessen. Tetyana bringt für die Gastfamilie eine Ikone mit, die Heiligenbilder werden in der orthodoxen Kirche verehrt. «Unsere Kinder hatten die Möglichkeit, fünf Monate in Frieden und Sicherheit zu verbringen.» Dafür sind sie und ihr Mann dankbar. Die Entscheidung, ihre Kinder ausser Land zu völlig fremden Menschen zu bringen, sei für sie die grösste Herausforderung der vergangenen Monaten gewesen. «Doch das Leben hat uns keine andere Wahl gelassen.»

 

Nina, die Jüngere, kehrt mit ihrer Mutter nach Kiew zurück, um dort die Schule zu beenden. Grössere Angriffe gab es über den Sommer in der ukrainischen Hauptstadt kaum. Doch die Lage ist weiterhin unsicher. «Etwas Angst vor der Rückkehr habe ich schon», sagt Nina. Aber sie freut sich darauf, wieder bei ihren Eltern zu sein und ihre Freunde wiederzusehen. Das ist ihr Wunsch. «Mein ganzes Leben ist in der Ukraine.» Vor Nina und ihrer Mutter liegt eine über 30 Stunden lange Zugfahrt. 

 

Nina ist nicht die einzige Ukrainerin, die wieder in ihr Heimatland zurückkehrt. Bis Ende Januar hat der Bund gemäss Zahlen des Staatssekretariats für Migration bei über 8500 Personen den Status S aufgehoben. Im Kanton Luzern trifft das, laut der Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen, Anfang Januar auf 280 Personen zu.

 

Yasna, die Ältere, bleibt in der Schweiz. Sie absolviert im Herbst ein Gastsemester an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. In der Ukraine befand sie sich bereits im ersten Studienjahr zur Dolmetscherin und Übersetzerin für Englisch und Deutsch. «Ich wollte schon immer ein Auslandsemester machen. Ich hätte aber niemals gedacht, dass es unter diesen Umständen sein wird.» Die Mutter hat für Yasna Kleidung sowie ein paar Zwetschgenkonfitüren – selbstgemacht von ihrem Vater – mitgebracht. Und ein Plüschtier. Der Husky mit den blauen Augen und der gestrickten Mütze stand in Kiew neben ihrem Bett.

 

 

Das Plüschtier hat Tetyana für Yasna aus Kiew mitgebracht. Foto: Milena Stadelmann

Der Abschied von ihrer Mutter und ihrer Schwester fällt Yasna schwer. Die Schwestern versprechen sich, zweimal täglich zu telefonieren. Auch Yasna reist mit ihrer Schwester und Mutter aus Hochdorf ab. Aber nicht nach Kiew, sondern nach Mallorca. Dort darf sie mit zwei Freundinnen kostenlos ein paar Tage in einem Haus einer Freundin von Julija Steinmann übernachten. Der Urlaub lenkt sie ab, gibt ihr ein Stück Normalität zurück. Vor Kriegsbeginn fuhr ihre Familie jeden Sommer in den Urlaub.

Heimkehr und Wiedersehen

1. September, Kiew. Nina sitzt am Pult in ihrem Zimmer in der Kiewer Wohnung. Vor ihr der aufgeklappte Laptop. Für sie beginnt heute das zehnte Schuljahr, welches in der Ukraine freiwillig ist. Nach dem elften kann sie ein Studium beginnen. Vermutlich will sie Chemie studieren. Die 15-Jährige nimmt auf Wunsch ihrer Eltern online am Unterricht teil. Andere Kinder gehen vor Ort in die Schule. Eigentlich möchte sie das auch, Nina vermisst den Kontakt zu ihren Freunden. Aber sie sieht ein: «So ist es sicherer, falls es Luftalarm gibt.» Zurzeit kommt das nur selten vor. In Ninas Klasse hat es viele neue Kinder. Einige kommen aus anderen ukrainischen Städten. Einige ihrer Klassenkameraden verweilen weiterhin im Ausland. Der Angriff auf die Ukraine wird am ersten Schultag thematisiert. «Ich finde das wichtig», sagt Nina. Ansonsten liest sie nur selten Nachrichten. «Für mich ist das emotional schwierig.»

 

Nur am Wochenende trifft sich Nina ab und zu mit ihren drei besten Freundinnen. Alle sind in der Ukraine geblieben. Einmal gehen sie Eislaufen. Ansonsten verbringt sie den grössten Teil der Woche in ihrer Wohnung, welche im Rajon Dnipro, einem Aussenbezirk von Kiew liegt. Das Zentrum ist mit der Metro etwa 40 Minuten entfernt. Das Zimmer mit den gepunkteten Tapeten haben sich Nina und Yasna vor dem Ausbruch des Krieges geteilt. Auf einem Regal stehen Pokale, welche die Schwestern bei Schwimmwettbewerben gewonnen haben. Bücher reihen sich aneinander – dazwischen steht die Holzkuh aus der Schweiz. Der Platz auf der rechten Pultseite bleibt nun leer, genauso das obere Hochbett. Manchmal liegt hier die Katze, die ihre Eltern während des Krieges zu sich geholt haben. Nina und Yasna haben sie auch Mörli getauft. «Es ist schön, ein eigenes Zimmer zu haben», sagt Nina. Aber sie vermisst Yasna. Insbesondere das Einschlafen fällt ihr ohne die Gespräche mit ihrer Schwester schwer.

 

Nina zeigt im Video ihr Zimmer in der Ukraine und erzählt, wie es ihr ohne ihre Schwester geht:

 

 

Bis auf das eigene Zimmer fühlt sich für Nina «alles wie früher» an. Als sie mit ihren Eltern durch das belebte Stadtzentrum spaziert, ist sie überrascht, dass sich bis auf die Panzerabsperrungen und Raketenabwehrsysteme nur wenig verändert hat.

 

Auf den Strassen Kiews stehen nun Absperrungen, damit Panzer nicht durchfahren können. Für Nina nach ihrer Rückkehr ein ungewohntes Bild. Foto: Nina Zadorozhna

Studium und Haarbänder

23. September, Winterthur. Das Gastsemester von Yasna beginnt. Es ist streng, insbesondere die englischen Fächer bereiten ihr Mühe. «Aber in der Ukraine wäre es auch nicht einfacher», sagt sie. Einige Vorlesungen, wie «Ukrainische Sprache», besucht sie weiterhin online an ihrer ukrainischen Universität. 

 

Während der Einführungswoche an der ZHAW hat Yasna ausländische Studentinnen kennengelernt, mit denen sie ab und zu etwas unternimmt. Zwei ihrer ukrainischen Kollegen, die mit ihr in Hochdorf waren, studieren ebenfalls in Winterthur. «Wir sehen einander nicht oft, aber es ist trotzdem schön zu wissen, dass jemand hier ist.» Mit Schweizer Studenten ist Yasna selten zusammen. «Sie sind zwar freundlich, aber bleiben eher unter sich.» Viele würden nicht gerne Hochdeutsch sprechen.

 

Ihre Haare trägt Yasna oft in zwei Zöpfen. Dann befestigt sie auf der einen Seite ein blaues, auf der anderen ein gelbes Haarband. Die Farben der ukrainischen Flagge. Sie will zeigen, dass sie Ukrainerin ist. «Wenn die Leute das sehen, denken sie an die Ukraine.» Diese sollen nicht vergessen, dass es nicht überall so ruhig ist, wie in der Schweiz. 

 

Wenn Yasna in Winterthur ist, darf sie bei Mariann Heusser, einer Bekannten ihrer Hochdorfer Gastfamilie, übernachten. Dort hat auch sie ihr eigenes Zimmer. Auf einem Regal stehen neben ihrer Holzkuh, ukrainische Bücher, ein Schweizer Taschenmesser sowie eine Collage mit Bildern von ihren Eltern, von Nina und ihrer Gastfamilie. Den Husky mit der gestrickten Mütze hat sie neben ihr Bett gestellt, wie früher in Kiew. Auch für Yasna ist es eigenartig ohne Nina in der Schweiz zu sein. «Wir waren noch nie voneinander getrennt.» Die Schwestern telefonieren seltener als abgemacht. Sie schreiben sich eher Nachrichten, manchmal streiten sie sich dabei. «Das gehört dazu», sagt Yasna. Mit ihren Eltern telefoniert sie fast jeden Tag. Sie will auf dem Laufenden bleiben, was in der Ukraine passiert. Jeden Morgen liest sie die Nachrichten. «Ich habe immer Angst, dass über Nacht etwas passiert.»

 

Im Video zeigt Yasna Gegenstände in ihrem Zimmer in Winterthur und erzählt, wie es ist ohne ihre Schwester in der Schweiz zu sein:

 

Luftalarm und Raketen

10. Oktober, Kiew. Luftalarm. Schwere Explosionen erschüttern am Morgen die Stadt. Es ist die erste grössere russische Angriffsserie seit den ersten Kriegswochen. Nina und ihre Eltern setzen sich ins Bad, an eine Wand, die einsturzsicher sein soll. In einen Schutzkeller gehen sie fast nie. «Das ist zu umständlich», sagt Nina. Normalerweise hören sie keine Explosionen. Diesmal ist es anders. Eine. Zwei. Drei. Bei einer vibriert das ganze Haus. Nina hat Angst um Mörli, die am Fenster sitzt. Der Alarm dauert etwa sechs Stunden.

 

In den nächsten Tagen und Wochen gehen die Angriffe auf die Hauptstadt weiter. Russland greift die kritischen Energieinfrastrukturen in mehreren ukrainischen Städten an. «Wir haben jetzt fast jeden Tag Luftalarm», sagt Nina. Mindestens eine Stunde, manchmal auch länger oder mehrmals am Tag. Einmal wird ein Wärmekraftwerk in der Nähe der Wohnung getroffen. Über Nacht fallen Strom und Wasser aus. Ansonsten bleibt ihr Bezirk von grösseren Angriffen verschont. Militärische Ziele gibt es hier nicht.

 

 

Karte: Hier befindet sich das Rajon Dnipro in Kiew.

 

Da die Regierung aufgrund der Angriffe Strom sparen muss, gibt es jeden Tag für etwa vier Stunden keinen Strom. Die Zeiten werden zuvor kommuniziert. Nina organisiert sich entsprechend. Wenn sie Strom hat, darf sie ihre Hausaufgaben nicht aufschieben. Ihre elektrischen Geräte muss sie immer aufladen. In der Wohnung zünden Nina und ihre Eltern oft Kerzen an und schauen heruntergeladene Filme. «Wir verbringen nun mehr Zeit miteinander. Das ist schön.» Aber: Nina muss auf vieles verzichten, wie Treffen mit ihren Freundinnen oder Spaziergänge im Stadtzentrum. Sie würde gerne wieder einmal ins Kino gehen. Oder in die Schule. Der Online-Unterricht fällt oft aus. «Wir verpassen sehr viel und müssen alles allein nachholen.» Die Situation macht Nina wütend. Warum dürfen Kinder in Russland in die Schule und sie nicht?

 

«Das Leben in Kiew ist nun anders», sagt Nina. In der eigenen Wohnung kann sie sich nicht mehr in Sicherheit wiegen. «Wir haben alle Angst.» Sie habe gewusst, dass es auch früher in ihrem Land Krieg gab. «Jetzt bekomme ich das aber erst richtig mit.» Sie hört immer wieder von Angriffen und weiteren Todeszahlen. «Schreckensnachrichten sind nun Teil meines Lebens.» Sie versteht: Es gibt grössere Probleme als schlechte Noten in der Schule.

Hilflosigkeit und Dankbarkeit

10. Oktober, Winterthur. Yasna schläft schlecht. Als sie aufwacht, sieht sie eine Nachricht ihrer Mutter. «Bei uns ist alles gut.» Bei Yasna läuten die Alarmglocken. «So etwas schreibt meine Mama nur, wenn etwas passiert ist.» Als sie von den Angriffen erfährt, fühlt sie sich hilflos. «Ich bin hier in der Schweiz und kann nichts tun. Das ist schlimm für mich.» Sie dachte, dass ihre Familie zum Landhaus fährt. Aber Nina will ihr gewohntes Umfeld nicht verlassen, für Yasna schwer verständlich. Wie immer montags, hat Yasna Online-Unterricht. Von der Vorlesung «Deutsche Grammatik» bekommt sie nichts mit. Sie ist in Gedanken bei ihrer Familie in Kiew. 2000 Kilometer weit entfernt. 

 

Seit sieben Monaten lebt Yasna in der Schweiz. In Frieden. «Ich kann mit meinen Freundinnen etwas unternehmen und herumreisen.» Einmal war sie mit ihnen spontan Gleitschirmfliegen. Ihre Familie hat diese Möglichkeiten nicht. «Manchmal denke ich, dass das nicht richtig ist.» Geht Yasna lange duschen, hat sie ein schlechtes Gewissen. Aber sie weiss: Weder von der Schweiz aus noch in der Ukraine könnte sie an der Situation etwas ändern.

 

Eigentlich wollte die 18-Jährige im November für ein paar Tage nach Hause fahren. «In der aktuellen Situation macht das aber keinen Sinn.» Wenn in der Ukraine Strom ausfällt, kann sie ihre Familie nicht erreichen. Manchmal packt sie Wehmut. Vor allem wenn sie müde ist, würde sie sich am liebsten ein Ticket nach Kiew kaufen. Aber das gehe wieder vorbei. «Ich muss positiv bleiben, anders geht es nicht.»

 

Trotz allem gefällt ihr das neue Leben in der Schweiz. Sie hat ein gutes soziales Umfeld, auch das Studium und die Teilzeitarbeit in einem Café machen Spass. «Ich hätte nie gedacht, dass ich den Job einmal machen würde, aber er gefällt mir.» Sie ist sicher: In der Ukraine würde sie noch nicht arbeiten. Yasna möchte für ein weiteres Gastsemester an der ZHAW studieren. «Meine Eltern wären auch froh, wenn ich noch bleiben könnte.» Im Frühling läuft ihr Status S aus. Sie will versuchen, ein Studentenvisum zu beantragen. Asylsozialhilfe bekommt sie aufgrund ihres Jobs nicht mehr, was aber auch sein Gutes hat: «Ich habe das Geld, das ich ausgebe, selbst verdient und bekomme es nicht einfach, weil ich Ukrainerin bin.» Dadurch fühle sie sich nicht mehr wie ein Flüchtling.

 

Yasna in ihrem Zimmer in Winterthur. Foto: Milena Stadelmann

Mit dem Geld, das sie in der Schweiz verdient, könnte Yasna im Notfall ihre Familie in der Ukraine unterstützen. «Schweizer Franken sind dort viel wert.» Ihr Vater kann weiterhin nicht arbeiten. Doch die Eltern wollen von Yasna keine finanzielle Unterstützung. Sie versucht, ihnen mit kleinen Dingen eine Freude zu bereiten.

Unterricht und Stromausfälle

November, Kiew. Nina liest das Fantasy-Buch «Ein Königreich aus Fleisch und Blut», das Yasna für sie bestellt hat. «Ich habe früher nie verstanden, warum Yasna so viel liest.» Jetzt liest sie sehr viel. Aufgrund der Stromausfälle hat sie es zu lieben gelernt. Die Versorgungslage in der Ukraine hat sich weiter verschlechtert. Die Wohnung von Nina kann zwar weiterhin geheizt werden, eine Zeit lang gibt es aber täglich nur zwei bis drei Stunden Strom. Wann, wird nicht kommuniziert. Pläne macht die Familie keine mehr. Die Mutter sagt jetzt: «Wir wissen nicht, was morgen ist.»

 

Unter diesen Umständen ist der Online-Unterricht für Nina nicht mehr möglich. Sie darf zum ersten Mal seit einem Jahr wieder in die Schule gehen. Diese ist etwa sieben Minuten zu Fuss von ihrer Wohnung entfernt. Angst in die Schule zu gehen, hat Nina nicht. Ihre Eltern sind besorgter. Doch auch sie haben gemerkt: «Der Online-Unterricht war für Nina nicht mehr tragbar», sagt die Mutter.

 

«Der Unterricht ist eigentlich genauso, wie vor dem Krieg», sagt Nina. Es sei denn, es gibt Luftalarm. Dann wird der Unterricht unterbrochen, die ganze Schule geht in den Schutzkeller. Dort ist es laut, kleine Kinder weinen und wollen nach Hause. Bereits am zweiten Schultag dauert der Luftalarm vier Stunden. Nina schätzt trotzdem, wieder in die Schule zu können. «Das Lernen fällt einfacher und ich kann meine Freunde wieder sehen.»

 

Inzwischen liegt in Kiew Schnee. Bei Nina kommt Weihnachtsstimmung auf. Bald stehen die Winterferien an. Damit die Schule nicht geheizt werden muss, sind sie länger als normalerweise. Nina plant mit ihren Freundinnen ins Stadtzentrum zu gehen. Ob das mittlerweile weniger gefährlich ist, weiss sie nicht. Aber sie will ohnehin gehen: «Es gibt sowieso immer eine Gefahr.» Die Regierung hat im Zentrum einen zwölf Meter hohen Weihnachtsbaum aufgestellt. Nina würde ihn gerne sehen. «Die Menschen brauchen etwas Normalität.»

Gastsemester und Studentenvisum

24. Dezember, Hochdorf. Normalerweise feiert Yasna Weihnachten mit ihrer Familie erst am 7. Januar, gemäss dem orthodoxen Kalender. In diesem Jahr verbringt sie Heiligabend bei ihrer Gastfamilie in Hochdorf.

 

Yasna hat sich daran gewöhnt, ohne Nina in der Schweiz zu sein. «Irgendwie ist es einfacher.» Sie ist nicht mehr für ihre jüngere Schwester verantwortlich, ist freier und kann sich an die erste Stelle setzen. Die 18-Jährige darf definitiv für ein weiteres Gastsemester bis nächsten Sommer in Winterthur bleiben. Das Studium läuft gut. Für einen Vortrag über Atomenergie erhielt sie die Note 5.4. Das Thema durfte sie frei wählen. «Ich wollte nichts über den Krieg machen», sagt Yasna. Ihre Deutschkenntnisse haben sich weiter verbessert, auch die englischen Fächer fallen ihr mittlerweile einfacher. Im Januar stehen weitere Prüfungen an. Im Februar legt sie online die Prüfungen an der Uni in der Ukraine ab.

 

Yasna vor der ZHAW in Winterthur. Sie darf für ein weiteres Gastsemester bleiben. Foto: Milena Stadelmann

Den Schutzstatus S wird Yasna beibehalten. Er wurde vom Bund bis März 2024 verlängert.

 

Yasna könnte sich gut vorstellen, nach dem Sommer weiterhin in der Schweiz zu bleiben, um ein Praktikum zu machen oder – wenn sie ein Studentenvisum erhält – weiter zu studieren. «Das sind aber nur Ideen.» Yasna will nichts planen. Sie will abwarten, wie sich die Situation in der Ukraine entwickelt. Wenn sie zurückkehrt, möchte sie nicht mehr bei ihren Eltern wohnen. Diese würden sie dabei unterstützen: «Yasna ist in der Schweiz selbständiger und verantwortungsbewusster geworden. Sie kann nun wichtige Entscheidungen allein treffen», sagt ihre Mutter.

 

Das Leben in der Schweiz unterscheidet sich von dem Leben in der Ukraine. Während sich Yasna in Winterthur einlebt, erlebt Nina was es bedeutet, in einem Kriegsland zu leben. Im Video erzählen die Schwestern von ihrem Alltag:

 

Feierlaune und Angst

24. Dezember, Kiew. Seit Tagen greift Russland die ukrainische Hauptstadt mit Kampfdrohnen an, so auch an Heiligabend. Viele orthodoxe Ukrainerinnen und Ukrainer ziehen in diesem Jahr Weihnachten vor, da sie aufgrund der Verbindung zur russischen Kirche nicht am 6. und 7. Januar feiern wollen. Nina fährt mit ihrer Familie zu ihren Grosseltern, die in der Nähe von Schytomyr leben. Die Stadt befindet sich etwa eine Stunde von Kiew entfernt. «Wir essen und verbringen Zeit zusammen.» Traditionell gibt es Kutja, eine süsse Getreidespeise.

 

Wichtiger als Weihnachten ist für orthodoxe Familien das Neujahr. Anstatt an Heiligabend findet die Bescherung dann statt. Die Vorfreude auf die Neujahrsfeier ist bei Nina und Yasna getrübt. Zum ersten Mal feiern sie getrennt. Als letztes Jahr die Erwachsenen schon schliefen, lagen die Schwestern noch lange zusammen im Bett und schauten Weihnachtsfilme. «So etwas kann man nur mit seiner Schwester machen», sagt Yasna. Zudem: In der Neujahrsnacht werden weitere Anschläge auf Kiew erwartet. Yasna: «Ich bin fast sicher, dass etwas passieren wird.» Nina fürchtet sich ebenfalls. «Ich hoffe einfach, dass es nicht so schlimm wird.»

Wehmut und Vorfreude

31. Dezember, Winterthur. Yasna feiert Silvester mit ihren Freunden aus der Ukraine in Zürich. Um 23 Uhr ruft sie ihre Eltern an. Bei ihnen hat das neue Jahr bereits begonnen. Dann schaut sie die Neujahrsansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. «So wie ich das verstanden habe, kann der Krieg noch lange dauern.»

 

Etwas Positives gibt es dennoch: Im Januar trifft sich Yasna mit ihrer Mutter für ein paar Tage in Prag. Nina wird nicht mitkommen. Sie will nicht so weit reisen und möchte den Vater nicht allein lassen. «Ausserdem ist es wichtig für Yasna, dass Mama nur Zeit für sie hat», findet Nina. Es wäre zwar für Yasna möglich gewesen, nach Kiew einzureisen. Aber die Reise wäre lange und teuer. «Vielleicht gibt es weder Wasser noch Strom. Das bringt nichts.» Ihren Vater und ihre Schwester hätte sie sehr gerne wiedergesehen. Sie stellt sich vor, wie sie mit ihren Freundinnen durch das Zentrum von Kiew spaziert, wie früher.

Wut und Wunsch

31. Dezember, Kiew. Im gesamten Gebiet der Ukraine bricht an Silvester gegen Mittag Luftalarm aus. Mehrere Explosionen sind in der Hauptstadt zu hören. Viele Ukrainer feiern das Neujahr aufgrund des Krieges nicht. Auch Nina ist nicht in Feierlaune. Schlechte Nachrichten häufen sich. Der Nachbar ihres Landhauses ist an der Front gestorben. Nina kennt seine 12-jährige Tochter. Das macht sie traurig und wütend, auch auf die Menschen in Russland: «Sie könnten eine andere Regierung fordern.»

 

Trotzdem wollen Nina und ihre Eltern am Abend ausgehen, ein wenig Normalität gibt ihnen Kraft, die schlechten Nachrichten zu ertragen. Die 15-Jährige feiert zum ersten Mal mit ihren Freundinnen. Die Eltern sind bei einer Kollegin eingeladen, deren Mann an der Front ist. Nina macht sich Sorgen um ihre Katze, die allein zu Hause bleibt.

 

Um Mitternacht schreibt Nina mit ihren Freundinnen einen Wunsch auf. Damit er traditionsgemäss in Erfüllung geht, muss das Papier in der ersten Minute des neuen Jahres vernichtet, sprich verbrannt oder gegessen werden. Für das Verbrennen bleibt Nina keine Zeit, sie isst den Zettel. Was sie sich wünscht? Sie sagt nur: «Alle in der Ukraine haben denselben Wunsch.»

Nina spaziert durch einen Park in Kiew. Der Park heisst «Peremoha», auf Deutsch «Sieg». Foto: Tetyana Zadorozhna

Russischer Angriffskrieg auf die Ukraine

 

Seit bald einem Jahr herrscht in der Ukraine Krieg. Bereits im Jahr 2013 verschärfte sich die politische Lage zwischen den beiden Ländern. Menschen in der Ukraine protestierten in der sogenannten Maidan-Bewegung für eine Annäherung an die Europäische Union. Der damalige russlandfreundliche ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch flüchtete aus dem Land, worauf Russland 2014 die Krim-Halbinsel annexierte. Etwa zeitgleich brach im Osten der Ukraine, in den Regionen Donezk und Luhansk, der Krieg im Donbass aus. Separatistische Bewegungen wollten sich mit Unterstützung Russlands von der Ukraine loslösen.

Im Herbst 2021 brachte Russland Truppen in die Grenzregion zur Ukraine. Expertinnen und Experten befürchteten einen militärischen Angriff. Im Februar 2022 erklärte der russische Präsident Wladimir Putin die Gebiete Luhansk und Donezk zu eigenständigen Staaten, worauf russische Truppen am 24. Februar in die Ukraine einmarschierten. Das verstiess gegen das Völkerrecht. Die russische Armee griff die Ukraine aus mehreren Richtungen an und rückte unter anderem in Richtung Kiew vor. Nach mehrwöchigen Kämpfen brachen die russischen Truppen den Angriff auf die Hauptstadt ab.

Nach unerwarteten Verlusten zogen sich die russischen Truppen ab März auch aus dem Norden und Nordwesten der Ukraine zurück. In zuvor besetzten Gebieten wurden Beweise für schwere Kriegsverbrechen der russischen Truppen gegen Zivilisten entdeckt, darunter in Butscha oder Irpin in der Nähe von Kiew. Die Angriffe auf ukrainische Städte – darunter Kiew – und die Kämpfe, insbesondere im Osten der Ukraine, setzen sich bis heute fort. Aufgrund der anhaltenden gezielten Angriffe auf die Energieinfrastrukturen der Ukraine, haben Millionen von Menschen in dem Land keinen dauerhaften Zugang zu Strom, Heizung und Wasser.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geht seit dem Beginn der russischen Invasion von knapp 7,9 Millionen Menschen aus der Ukraine aus, die als Flüchtlinge in anderen europäischen Staaten leben. Innerhalb des Landes befanden sich im Dezember knapp sechs Millionen Menschen auf der Flucht. mst